Ab hier drei Stunden Wartezeit
Die Snacks und Getränke liegen bereit. Im Raum laufen die Ventilatoren auf maximaler Stufe, aufgrund der hohen Temperaturen steht selbst kurz vor Mitternacht eine unangenehm drückende Hitze im Raum. Dann endlich ist es soweit, die Server gehen online. Doch die erste Freude hält nur kurz, denn der Ansturm ist weltweit gewaltig. Egal ob auf den deutschen, englischen oder französischen Realms, überall gibt es teils elendig lange Wartezeiten. Eben genau wie früher. Man will sich deswegen gar nicht ärgern, schließlich war genau damit auch zu rechnen und die Warteschlangen werden zügig abgearbeitet. Der stetig heruntertickenden Uhr zuzuschauen und dabei die immer kleinere Position in der Warteschlange zu beobachten war früher Alltag. Gerade einmal zehn Minuten Wartezeit musste ich überbrücken, kurz nach Mitternacht deutlich weniger als erwartet. Andere haben weniger Glück, schimpfen im Discord über 280 Minuten und mehr. Warten wollen sie trotzdem. Bloß nicht das einmalige Gefühl verpassen, wenn sich zeitgleich tausende Spieler in den Startgebieten tummeln. Was das angeht, ist World of Warcraft bis heute einzigartig und immer wieder ein besonders erinnerungswürdiges Erlebnis.
Aller Anfang ist schwer
Was folgt, beschäftigt viele Spieler manchmal mehr als das eigentliche Gameplay. Fraktion, Klasse und Optik wollen wohlüberlegt sein, viel wichtiger ist aber ein adäquater Name. Auch so eine Sache, die sich seit Vanilla nie geändert hat. Die richtig guten Namen sind natürlich bereits weg, darunter auch Jürgen, Werner…selbstverständlich konnte ich der Versuchung auch nicht widerstehen, meinem Tauren den Namen „Rindeastwood“ aufzudrücken. Aber auch hier: Keine Chance. Am Ende wurde es „Beefledger“, Schamane. Classic bietet genau wie seinerzeit auch Vanilla eine deutlich dünnere Auswahl an Klassen und Fraktionen als man es mittlerweile gewohnt ist. Verabschiedet euch von Todesrittern und Dämonenjägern. Sagt „Tschüss!“ zu Goblins, Draenei und Co. Auf Seiten der Allianz finden sich Menschen, Zwerge, Goblins und Nachtelfen ein, unter dem Banner der Horde versammeln sich Orcs, Untote, Tauren und Trolle. Tauren können keine Paladine werden, Zwerge keine Schamanen. Alles ist genau so, wie es früher war. Und spätestens mit der Einführungssequenz wird klar, dass World of Warcraft Classic auch ausschaut wie früher.
Gefallen dürfte das grafikverwöhnten Gamern nicht. Denn selbst in seiner gegenwärtig aktuellsten Version ist das Spiel technisch nicht mehr wirklich zeitgemäß, sondern rettet sich von Erweiterung zu Erweiterung hauptsächlich dank stetiger Verbesserungen vor dem Abstieg in die endgültige Altbackenheit. Die alten Charaktermodelle haben sich absolut nicht gut gehalten, Wasserqualität, Beleuchtung und Co. dümpeln ebenfalls auf dem Urniveau von 2004 vor sich hin. Ein schönes Spiel ist World of Warcraft: Classic nicht, will es aber auch gar nicht sein. Im Vordergrund steht die puristische Erfahrung von einst, wer mehr will muss zum regulären Spielgeschehen zurückkehren. Problematisch ist das nicht, denn Classic ist für jeden regulären Abonnenten von World of Warcraft inklusive und erfordert abseits der üblichen Abonnementgebühren keinerlei Zusatztarife und muss auch nicht extra gekauft werden. Eine anständige Geste ist das allemal. Dafür basiert Classic auf dem aktuellen 64 Bit – Klienten des Hauptspiels, bietet also angenemessene Optimierung für aktuelle Systeme. Ohne die zahlreichen Verbesserungen sind die Hardwareanforderungen wieder deutlich zurückgeschraubt worden, selbst mit einer richtig alten Gurke kann man nahezu problemlos spielen.
Mittlerweile ist es knapp zwanzig Minuten nach Mitternacht. Klar: Das Startgebiet der Tauren ist wie jedes andere auch hemmungslos überfüllt. Die Server haben deutlich darunter zu leiden. Totalabstürze gibt es nicht, dafür aber Lags und hohe Pings. Camp Narache, der Startpunkt der Tierwesen, gleicht einer chaotischen Kuhherde, die sich ausgehend vom allerersten Questgeber langsam in alle Himmelsrichtungen verteilt, während unermüdlich neue Spieler aufploppen. Was für ein Spektakel! Wohin man auch blickt und geht, überall herrscht absoluter Ausnahmebetrieb. Die nahegelegenen Wiesen sind übersät mit toten Ebenenschreitern und Bergpumas, deren Fleisch und Felle im Rahmen der ersten Aufgaben besorgt werden sollen. Wohin einen die aktuelle Quest führt, erklärt der Questtext. Südosten, Nordwesten, mehr Hinweise gibt es oft nicht. Alles andere muss ganz ohne angezeigte Wegweiser oder andere Hilfen gefunden werden. Die Neuzugänge erkennt man schnell, dass sind jene, die sich im Chat darüber beschweren, sich ständig zu verirren. Dadurch ist man gezwungen, wieder zu fragen. Zu interagieren. Den Chat zu nutzen. Und die Menschen helfen sich. Erklären, geben Ratschläge und Tipps. Mit einem Mal ist die freundliche Kommunikation in World of Warcraft zurückgekehrt und damit etwas, dass das Hauptspiel abseits von Handel und Co. seit Jahren vermissen lässt. Denn dort wird man stetig angeleitet, dort kann man sich eigentlich gar nicht verlaufen. Interaktion mit anderen Spielern: Überflüssig. Und die Spieler feiern das.
Wissen ist Macht
Wer die letzten Jahre im regulären World of Warcraft verbracht hat, mag sich an der chronischen Langsamkeit von Classic vielleicht die Zähne ausbeißen. Flugmeister sind nicht ganz so rar gesät, das Geld ist sowieso extrem knapp und reicht mit viel Glück dafür, beim Klassenlehrer den nächsten Skill zu lernen. Reittiere gibt es erst wieder mit Stufe 40 und kosten nicht nur ein Heidengeld, sondern wollen über lange Questreihen verdient werden. Selbst fliegen kam erst mit der ersten Erweiterung, ist hier also ebenfalls nicht möglich. Das bedeutet vor allem eines: Laufen, laufen und nochmals laufen. Generell gilt: Mikromanagement ersetzt den gewohnten Komfort. Wer Geld verdienen will, muss arbeiten und hergestellte Gegenstände wie Tränke und Rüstungen möglichst hochpreisig im Auktionshaus verkaufen. Die Berufe erhalten dadurch endlich die alte Wertigkeit zurück und dienen nicht mehr als optionales Beiwerk, welches allenfalls für die Aussstattung von Raidgruppen interessant ist. So kann selbst ein einfacher Heiltrank maßgeblich dazu beitragen, dass ihr euch in Azeroth das ein oder andere leisten könnt. Hier hat die Inflation des Hauptspiels nämlich noch nicht zugeschlagen, auch Kleinvieh macht Mist.
Eine volle Brieftasche ist also wichtig, aber natürlich kommt auch ein reicher Charakter ohne richtige Ausrüstung und Talent(-e) nicht weit. Besonders in den Instanzen und später auch Raids, für die man jetzt wieder manuell nach Gruppenmitgliedern suchen muss, ist Klassenverständnis absolut wichtig. Beides fordert euch zwar auch das Hauptspiel ab, gerade bei den Talenten ist man da aber längst deutlich überschaubarer am Werk. In Classic öffnet sich dagegen mit Level 10 der altbekannte Talentbaum wie man ihn vor Cataclysm gekannt hat, vollgepackt mit jeder Menge Fertigkeiten und Perks, in denen ihr euren mit jedem Stufenaufstieg erhaltenen Talentpunkt verteilen könnt. Drei Talentbäume sind jeweils verfügbar, alle bieten eigene nützliche Boni, mit denen sich euer Held an eure ganz persönliche Spielweise anpassen lässt. Dadurch eröffnen sich natürlich auch deutlich vielfältigere Möglichkeiten als im Hauptspiel. Egal ob Schadensklassen, Heiler oder Tank, wer ihr seid definiert nicht mehr nur zentral euer Gear, sondern auch die Punkteverteilung.
Auch die alten Werte sind natürlich wieder mit am Start und erfordern ganz eigene Aufmerksamkeit. Trefferwertung, Waffenkenntnis, Willenskraft…all das spielt nun wieder eine gewichtige Rolle in World of Warcraft Classic. Denn was nützt der beste Damage Dealer, wenn er sein Ziel regelmäßig verfehlt? Oder ein Heiler, dessen Mana nach kürzester Zeit aufgebraucht ist? Und weil es in Classic weder Sockel noch zufällige Upgrades oder gar ausgewählte Questbelohnungen für euren Helden gibt, müsst ihr bei der passenden Ausrüstung ganz genau aufpassen, dass sie am Ende alle Bedürfnisse eurer Klasse abdeckt. Auch hier wird Mikromanagement also ganz groß geschrieben. All das und mehr macht Classic zum einem sehr viel anspruchsvolleren World of Warcraft. Interessant zu sehen, wie sehr sich spielerische Gewohnheiten mit den Jahren geändert haben, wie unterschiedlich Anspruch seither wahrgenommen wird und vor allem, auf welch erschreckende Weise wir uns an übermäßigen Komfort gewöhnt haben. Selbst Veteranen der ersten Stunde werden sich dabei ein bisschen wie in kaltes Wasser geworfen fühlen. Geht das aber erstmal vorbei, darf man sich über eine hervorragende Erfahrung mit höchstem Nostalgiefaktor freuen.
Ups…die Pfeile sind leer!
Wer die guten alten Zeiten verpasst hat, weil er entweder einfach zu jung oder nicht interessiert war, wird aber auch viele weitere Hürden entdecken, als nur Wegfindungsprobleme, chronische Geldknappheit und die komplexeren Spielmechaniken. Denn der Teufel steckt auch anderweitig im Detail. Jäger, denen plötzlich Pfeile oder Kugeln ausgehen (oder das passende Futter für ihre Gefährten), stehen ebenso doof da wie Schurken ohne Giftreserven oder Paladine ohne Siegel. Vorbereitung ist das halbe Leben, es genügt nicht mehr, mal fix ein paar Flasks einzukaufen oder sicher zu sein, dass die Ausrüstung repariert ist.Es sind Unterschiede wie diese, die zeigen werden, wie gut World of Warcraft Classic aufgenommen werden wird und inwieweit zumindest die ersten Erweiterungen nachgereicht werden.
Wer es lieber gemütlich und mit maximalem Support mag, ist im gegenwärtigen Azeroth inklusive Battle for Azeroth sicher besser aufgehoben. Wer dagegen zurück will zu einem Maximum an Autonomie, Feinmechanik und auch kein Problem damit hat, sich in den wieder ins englische Original umbenannten Gebieten ab und zu verlaufen, könnte in Classic genau jenes Gefühl wiederfinden, dass anderweitig spätestens mit Cataclysm mehr und mehr verloren ging. Denn hinter allem, was man heute als spielerisch veraltetet betrachten würde, verbirgt sich bis heute eines der wichtigsten Spiele der Videospielgeschichte, dessen Zwang zur sozialen Interaktion mit anderen Mitspielern alleine offenbart, was früher mal war und heute nirgendwo mehr so richtig ist: Ein freundliches, faires Miteinander, frei von Flaming und Beleidigungen.
Die Zukunft der Vergangenheit
Natürlich dürft ihr euch auch in Classic mit Mitgliedern der feindlichen Fraktion prügeln. Ausgetragen werden die Massenschlachten zwischen Horde und Allianz wahlweise im Arathibecken, dem winterlichen Alteractal und natürlich der Warsongschlucht. Das Problem ist nur: Inhalte wie diese und andere werden erst später Stück für Stück ausgerollt werden. Blizzard plant nämlich gegenwärtig, Content wie Raids und eben auch PvP phasenweise nachzureichen, wie es auch damals bei Vanilla schon der Fall war.
Nur auf PvP – Servern lassen sich feindliche Spieler ohne Vorwarnung angreifen, Belohnungen werden dafür aber nicht spendiert, denn auch das Ehresystem kommt erst noch. Da alleine aber die Reise bis zur Endstufe 60 WESENTLICH länger dauert als im Hauptspiel, solltet ihr damit alleine erstmal eine ganze Weile beschäftigt sein. Sämtliche Instanzen sind aber bereits enthalten, natürlich in der Version vor den Reworks, sofern erfolgt. Mittlerweile ist es vier Uhr morgens. Die Server sind komplett abgestürzt. Manches ändert sich einfach nie.
Vorläufiger Fazit
„Ob nun Horde oder Allianz die bessere Fraktion ist, wird wahrscheinlich nie geklärt werden. Und auch darüber, welche World of Warcraft, nämlich Classic oder Current, überlegener ist, wird wohl ewig ein Streitthema bleiben. Dass man jetzt aber ganz offiziell die Möglichkeit hat, sich im Rahmen eines regulären Abonnements ganz ohne Zusatzkosten für seine persönliche Präferenz zu entscheiden, wird die Debatte sicher etwas entspannen. Denn nun hat jeder die Wahl zwischen leicht oder schwer, zwischen langsam oder schnell und natürlich auch zwischen alt und neu zu wählen. Beides bietet ganz eigene Vor- und Nachteile. Mir persönlich hat der Ausflug in das alte Azeroth extrem gut gefallen, einfach weil alles an seinem Platz ist und man trotzdem wieder alles ganz neu lernen muss. Classic hat dadurch allerbeste Chancen, sich in dieser Form noch und wieder über Jahre erfolgreich zu halten. Jetzt müssen nur die kommenden Phasen pünktlich ausgerollt werden, dann liegt die Zukunft von World of Warcraft womöglich wirklich in dessen Vergangenheit.“
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