Saints Row – „Sich selbst zum Feind geworden“

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                                                            Getestet und verfasst von Exe

81w9WdpmZdL. SL1500 Wir schreiben das Jahr 2006: Das gesamte Open-World-Genre wurde vollständig von Rockstar Games besetzt. Doch halt! Eine Spieleschmiede aus Illinois wagt es, den Platzhirsch herauszufordern. Saints Row erschien als lockere Antwort auf Grand Theft Auto und seine damals schon zahlreichen Ableger, bot aber genügend eigene Ideen, um sein Publikum zu finden und rentabel zu werden. In den Folgejahren wurde die Reihe dann immer abgedrehter. So sehr, dass ein Reboot quasi mandatorisch wurde. Das neue Saints Row will zurück zu den Wurzeln. Bodenständiger soll es wieder werden, ohne dabei seinen abgedrehten Grundcharakter zu verlieren. Im Test zeigt sich, dass dieses Vorhaben leider nur bedingt gelungen ist. 

                        Hinweis: Sämtliches Bildmaterial wurde auf der PlayStation 5 erstellt. 

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Arbeitskampf

Alles ist teurer geworden, egal ob Mietkosten oder der Döner um die Ecke. Wenn die Kohle hinten und vorne nicht reicht, werden extremere Maßnahmen notwendig. So auch in der fiktiven Metropole Santo Ileso im Südwesten der Vereinigten Staaten. Dort verdingt sich unserer wahlweise männlicher oder weibliche Baukastencharakter zu Beginn des Spiels als Söldner im Dienste von Marshall Defense Industries, einem weltweit agierenden Konzern unter der Fuchtel von Atticus Marshall – auf den ersten Blick ein netter alter Südstaatengentleman, der nebenbei locker als Werbegesicht für eine bekannte Hühnerbraterei auftreten könnte. Nachdem wir unseren ersten Auftrag versauen und prompt ohne Job auf der Straße landen, ist guter Rat teuer: Woher das nötige Geld nehmen, um den überfälligen Mietanteil aufzubringen? 

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Weil es unseren WG-Buddies Eli, Neenah und Kevin kaum besser geht und Santo Ileso überreif für eine neue kriminelle Organisation scheint, gründet die Truppe kurzerhand eine Gang: Die Saints sind geboren…schon wieder. Und wir sollen nun als „Boss“ – so lautet übrigens von Anfang bis Ende unsere offizielle Anrede – dafür sorgen, dass es Moneten regnet. Kinderspiel, denn wie schwer kann es schon sein, eine Bande anzuführen und Verbrechen zu begehen? Mehr als gedacht, denn die neun Distrikte der Stadt sind längst in der Hand dreier rivalisierender Banden mit wesentlich mehr Geschäftserfahrung. Aber was ein echter Saint ist, denn schreckt sowas doch nicht ab. Gute sechzehn bis neunzehn Stunden dauert ein Durchgang durch die Story, die sich als so vorhersehbar entpuppt, wie der Inhalt einer versiegelten Knopperspackung („Tatsächlich, ein Knoppers!“) und bei der Charakterdarstellung gefühlt jedes geläufige Klischee in den Ring wirft, welche das Setting je hergegeben hat. 

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Einerseits nimmt sich Saints Row viel Zeit, die zentralen Figuren und vor allem unsere Crew einzuführen. Andererseits gerät genau dieser Aspekt rasch zur Tortur, wenn man sich für den allgegenwärtigen Hipsterhumor nicht begeistern kann. Ich persönlich kann damit leider überhaupt nichts anfangen. Obwohl sich Kevin und Co. mit der Zeit als Persönlichkeiten brauchbar vertiefen, bleiben sie an der Oberfläche nervig. Was in den Vorgängern noch ganz bewusst so inszeniert worden ist und deswegen auch einigermaßen funktioniert hat, wird im Reboot dank forcierter Ernsthaftigkeit völlig ruiniert. Als jemand, der sich indizierte Original damals noch über Schweden für die XBOX 360 bestellt hat und seitdem jedes Abenteuer mit den ursprünglichen Saints genossen hat, fühlt sich die neue Truppe für mich in allen Belangen wie ein Schlag ins Gesicht an. Und zwar einer von der Sorte, der selbst jetzt, während ich diesen Bericht abtippe, immer noch fies nachbrennt. 

Neues Konzept, alte Probleme

Je mehr Zeit ich in Santo Ileso verbracht habe, desto mehr wurde mir klar, dass die Macher das grundlegende Prinzip eines Reboots nicht verstanden haben: Eine neue Geschichte erzählen, aber die Stärken des Originals bewahren. Volition hat hier nahezu alles über Bord geworfen, was die Vorgänger so unterhaltsam gemacht hat. Saints Row hat sich seit jeher getraut, was sich selbst ein Grand Theft Auto nicht getraut hat und war damit der ultimative Spielplatz für jene Chaoten, denen Liberty City und Co. zu bodenständig und realitätsbezogen waren. Mit dem Reboot ist das Franchise genau zu dem geworden, was es von Anfang an so effektiv auf die Schippe genommen hat – nur eben viel schlechter. Denn wo die chaotische Komponente auf ein Minimum begrenzt wird und nur ganz selten mal durchscheint, ist das neue Saints Row nur noch ein unterdurchschnittlich schönes Spiel, in einer unterdurchschnittlichen Open World, mit unterdurchschnittlichem Gameplay und unterdurchschnittlichem Storytelling. 

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Das alleine wäre schon Grund genug für eine Wertung irgendwo im Mittelfeld. Nur leider ist das bei weitem noch nicht alles. Selbst ein halbes Jahr nach dem ursprünglich angedachten Releasetermin fühlt sich das Spiel über weite Strecken unfertig an. Bugs begegnen einem quasi an jeder Straßenecke und sind damit gefühl in höherer Anzahl vorhanden als Passanten – und von denen gibt es in Santo Ileso gerade mal genug, um nicht das Gefühl zu haben, durch eine Geisterstadt zu wandeln. Glitchende Figuren, eine grottige K.I., Anzeigefehler im Interface und sogar ganze Teile der Umgebung, die einfach nicht geladen werden…was die Macher hier abgeliefert haben, fühlt sich kaum weniger unfertig als die katastrophale Grand Theft Auto: Definitive Edition an. Wirklich lobenswert ist nur der extrem umfangreiche Editor, der sogar ausgefallenste Schöpfungen ermöglicht und dabei gleich mehrere Speicherplätze für all eure Kreationen anbietet. Weit vorab des eigentlichen Spiels veröffentlicht, hat man auch nur dort wirklich das Gefühl, ein fertiges, durchdachtes Produkt in den Händen zu halten. 

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Bei der allgemeinen Missionsgestaltung herrscht dann tatsächlich sogar ein angenehmes Maß an Abwechslung, zumindest grundlegend. Denn früher oder später heißt es wie so oft „Fahre von A nach B und töte dort X“. Wenigstens die zahlreichen Klamottenläden in der Stadt offerieren mit ihren absurden Outfits ein bisschen klassisches Saints-Flair. Beim Waffenarsenal greift die neue Bodenständigkeit besonders hart, statt Dildogewehren und Co. muss man überwiegend mit klassischen Schießprügeln wie Maschinenpistolen, Schrotflinten und Raketenwerfer begnügen. Etwas ausgefallener ist dagegen der Fuhrpark geraten, besonders mit der High-Tech-Ausrüstung von M.D.I. lässt sich verheerender Schaden anrichten. Im direkten Vergleich zur ursprünglichen Reihe bleibt das Angebot an futuristischen Vehikeln jedoch überschaubar. Die komplette Story lässt sich übrigens plattformintern auch im KoOp gemeinsam mit einem Freund absolvieren, alle zusammen erreichte Fortschritt lässt sich nachher bequem auf Solopfaden fortsetzen. Das macht Saints Row längst noch nicht zu einem guten Spiel, aber erträglicher wird es Gebotene dadurch definitiv. 

Vom Fehlerteufel besessen

Auf den Konsolen wird der Titel zusätzlich durch seine unausgegorene Bedienung geplagt, die besonders bei Schusswechseln Frustmomente am Fließband produziert. Taktische Finesse wird obsolet, wenn automatisch und ohne Möglichkeit zur Deaktivierung beim Anvisieren auf den nahegelendsten Feind aufgeschaltet wird und man nur noch abdrücken muss. Da muss man fast schon dankbar sein, dass es kein Deckungssystem gibt und die Gegner einem stumpf entgegenrennen, weil die wahrscheinlich auch froh sind, wenn es einfach endlich vorbei ist. Nur die etwas stärkeren Kaliber inklusive der gelegentlich auftauchenden Bosse verlangen euch etwas mehr Können ab. Aber auch nicht viel mehr. 

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Das Fahren macht in Santo Ileso noch am ehesten Spaß. Zum Glück, denn manchmal fühlt sich das Reisen auf vier Rädern wie eine Ewigkeit an, was durch die überschaubare Interpretenliste innerhalb der einzelnen Radiostationen nicht besser wird. Anders dagegen das Fliegen, denn wegen der komplett unausgegorenen Physik verhalten sich die Luftvehikel bei Kollisionen mit der Umgebung gerne mal wie Flummis und lassen sich kaum mehr bändigen. Dasselbe Problem haftet den von Anfang an verfügbaren Wingsuit an, dessen Steuerung bzw. das Auftriebssystem eine mittelschwere Katastrophe ist. Weiterhin ärgerlich: Während der Missionen könnt ihr die Stadt nicht frei erkunden, sondern dürft euch nur innerhalb eines vorgegeben Areals bewegen. Sobald ihr die künstlich eingeschränkte Zone dennoch verlasst, droht das Game Over. Immerhin, die Checkpoints sind fair verteilt und dank fünf verschiedener Schwierigkeitsstufen sollten selbst blutigste Anfänger kein Problem damit haben, den Abspann zu erreichen. 

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Je größer eurer Verbrechersyndikat mit der Zeit wird, desto mehr passive Fähigkeiten schaltet ihr für euren Charakter frei. Drei davon dürfen gleichzeitig aktiv sein, die Auswahl an nützlichen Perks ist angenehm umfangreich. Zum Einsatz gelangen die Hilfen im Spiel, sobald ihr genug Kills auf eurem Konto angehäuft und damit ausreichend Flow aufgeladen habt. Blöd nur, dass ihr dafür teilweise horrenden Grind in Kauf nehmen müsst, bis die einzelnene Gewerbezweige auch mal eine entsprechende Belohnung springen lassen. Wenn man zehn Mal und mehr dieselbe langweilige Aufgabe absolvieren muss, ist das ein klares Zeichen dafür, dass die Designer ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht haben. 

Technik von Gestern

So, wie sich dieser löchrige Torso all dessen, was Saints Row einst ausgemacht hat spielt, sieht er leider auch aus. Nachdem ich das Spiel zum ersten Mal auf der PlayStation 5 gestartet habe, dachte ich zunächst, die falsche Version geladen zu haben. Nein, hatte ich nicht. Und schlimmer noch, selbst an der eingeschränkten Leistung des Vorgängers gemessen sieht Saints Row abseits seiner wirklich stimmigen Beleuchtung auf Basis von Raytracing (nur XBOX Series X, PlayStation 5 und PC) alles andere als gut aus. Bei sämtlichen Charakteren, von den Hauptfiguren bis zu den umherlaufenden Passanten weiß man nicht, ob man es mit Menschen oder zum Leben erwachten Wachsfiguren zu tun hat. Die Stadt selbst wirkt abseits weniger Wahrzeichten so unglaublich generisch, dass es weh tut. Da hat man von Anfang an nur wenig Lust, überhaupt nach den unzähligen verschiedenen Collectibles Ausschau zu halten, welche die Entwickler überall versteckt haben. Schwache Texturen, hölzerne Animationen…eine so hässliche und vergessenwerte Open World ist mir schon lange nicht mehr begegnet. 

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Den finalen Sargnagel liefert die extrem unstetige Konsolenperfomance. Modi stehen einige zur Verfügung, von 1080p und höchsten Settings bis zu nativem 4K – abhängig natürlich davon, auf welcher Konsole man das Spiel startet. Was aber im Kern fast egal ist, denn die Bildrate ist auf KEINER einzigen Plattform auch nur im Ansatz zufriedenstellend. Je höher die Settings, desto heftiger fallen die regelmäßigen Einbrüche aus. Für den Test habe ich jeden einzelnen Modus genau unter die Lupe genommen, überzeugen konnte nicht einer. Munteres Bildratenhüpfen, angefangen bei kleineren Slowdowns in Zwischensequenzen bishin zu unspielbaren Ruckelorgien, wenn besonders viel Chaos auf dem Schirm tobt. Am ehesten spielbar ist Saints Row auf einem leistungsstarken PC, aber selbst dann bleibt man – vergessen wir die Unmengen an Bugs nicht – über Optik und Performance enttäuscht zurück. Man muss leider sagen: Selbst monatelanges Nachpatchen würde nicht ausreichen, damit ich Saints Row eine Empfehlung aussprechen könnte. 

Fazit und Wertung

profilbildapril„Zu sehen, wie brutal Volition ihr wohl bekanntestes Franchise mit dem Reboot zu Saints Row gegen die Wand gefahren haben, tut unfassbar weh. Ohne seine anarchistische Seele ist das Spiel nur noch ein formelhaftes Action-Abenteuer in einer generischen offenen Welt, wie es sie längst in Massen gibt. Visuell unansehnlich, belanglos erzählt, langweilig zu spielen und von so vielen Bugs geplagt, dass man schreiend aus dem Fenster hüpfen möchte. Wo es Rockstar Games dank intensivster Nachbesserung gelungen ist, seine verkorkste Grand Theft Auto: Definitive Edition halbwegs zu retten, wird das im Falle von Saints Row sehr viel schwieriger. Miese Performance und Bugs kann man fixen…aber ein durch und durch mieses Spiel nicht. Wenn der Editor das Beste am großen Ganzen ist, kann man wohl nur eine Sache sagen: Finger weg! Und zurück zu Johnny Gat, Kinzie und Konsorten, so schnell es geht!“ 

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PRO:

+ Liefert eine gute Rechtfertigung zum Trinken
+ Hübsche Beleuchtung, besonders auf Current-Gen-Konsolen und PC
+ Mustergütiger Editor
+ Tonnenweise teils abstruser Outfits
+ Ordentlicher Gesamtumfang
+ Zahlreiche Nebenaktivitäten
+ Brauchbare englische Sprecher
+ Solide übersetzte deutsche Texte
+ Plattforminterner KoOp-Modus
+ Fair ausbalancierte Schwierigkeitsstufen
+ Gut gesetzte Checkpoints zwischen den Missionen

CONTRA:

– Überwiegend hässliche Grafik, wohin man auch blickt
– Stark schwankende Performance auf allen Plattformen und über sämtliche Modi
– Generische Open World
– Klischeebehaftete, lächerlich vorhersehbare Story…
– …und extrem nervige, uninteressante Charaktere 
– Grenzdebiler Hipsterhumor
– Repetive Nebenbeschäftigungen…
– …die teilweise langes Grinden erfordern
– Strohdumme K.I. 
– Lustlose, schnell nervige Feuergefechte
– Bodenständige Neuausrichtung mehr Fluch als Segen
– Nahezu vollständig von Bugs durchseucht
– Künstliche Bewegungseinschränkung innerhalb der Missionen
– Viel zu viel Herumfahrerei 
– Fliegen macht aufgrund der miesen Physik keinen Spaß
– Überschaubare Interpretenliste 
– DualSense wird nicht ansatzweise ausgenutzt
– Miese Gefechtssteuerung

                                                 GESAMTWERTUNG:     3.5/10


Entsprechende Rezensionsexemplare wurden uns freundlicherweise vorab von Deep Silver zur Verfügung gestellt. 

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