Life is Strange: True Colors – „Achterbahn der Gefühle“

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                                                    Getestet und verfasst von General M 

81mXcZAuwcL. SL1500 Irgendwann habe ich einmal einen sehr faszinierenden Satz gelesen: „Nichts ohne Emotionen ist wirklich lebendig“. Die Fähigkeit, Gefühle aller Art empfinden und ausdrücken zu können ist zentral für unser Dasein. Was aber wäre, wenn jemand dazu imstande wäre, diese Gefühle zu lesen, selbst wenn sie vom Gegenüber versteckt werden? Genau davon handelt Life is Strange: True Colors, der sehnlichst erwartete vollwertige dritte Teil des seit 2015 bestehenden und seitdem sehr erfolgreichen Franchises, welches seit jeher mitten aus dem Leben gegriffene Geschichten mit übernatürlichen Elementen kombiniert. Nach dem Abgang der ursprünglicheen Serienschöpfer Dontnod Entertainment übernimmt nun Deck Nine Games die weiteren Arbeiten am Franchise. Mit Erfolg? 

                       Hinweis: Sämtliches Bildmaterial wurde mit der PC-Version erstellt. 

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Neuanfang mit Folgen

Im Leben der asiatischstämmigen Amerikanerin Alex Chen lief es bisher alles andere als gut. Bereits in ihrer Kindheit musste sie miterleben, wie erst die Mutter an Krebs starb und der Vater anschließend überfordert das Weite suchte. Während ihr großer Bruder Gabe im Jugendknast landete, schlug sich Alex über die nächsten acht Jahre durch diverse Pflegeheime und sieht sich nun mit dem Erreichen der Volljährigkeit ganz auf sich gestellt in eine Welt ausgesetzt, die sie bisher kaum kennenlernen konnte. In der Zwischenzeit hat der mittlerweile entlassene Gabe ein neues Leben in Haven Springs, einem verschlafenen Bergstädtchen im Staat Colorado begonnen, dabei aber nie aufgehört, nach seiner Schwester zu suchen. Schließlich entscheidet sich Alex trotz einiger Bedenken dazu, der Einladung von Gabe zu folgen, an dessen Seite ein neues Kapitel aufzuschlagen und gemeinsam einer besseren Zukunft als Familie entgegenzublicken. 

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Für die junge Frau mit der übernatürlichen Fähigkeit, die Gedanken und Emotionen ihrer Mitmenschen fühlen zu können, ist die Ankunft in Haven Springs zunächst ein ziemlicher Kulturschock. Doch wie sich herausstellt, leben die Bewohner längst nicht mehr allesamt in der Steinzeit. Mit dem etwa gleichaltrigen Ryan, welcher zusammen mit der nerdigen Steph einen hippen Plattenladen betreibt, schließt Alex ebenso schnell Freundschaft wie mit den etwas alteingesesseneren Bewohnern, zu denen auch Gabe´s neue Lebensgefährtin Charlotte sowie deren aus einer früheren Partnerschaft stammende, comicbegeisterter Sohn Ethan zählen. Als sich der Knirps aber kurz vor einer angekündigten Sprengung der global agierenden Bergbaugesellschaft Typhon in einen von deren nahegelenen, jedoch längst stillgelegten Minenschächte wagt, wagen Alex, Ryan und Gabe entgegen aller Warnungen eine Suchaktion inmitten des Gefahrengebietes. 

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Dabei kommt es zur Katastrophe: Zwar gelingt es, den verängstigten Ethan in Sicherheit zu bringen, doch entgegen der telefonischen Versicherung, dass die Sprengung so lange wie nötig ausgesetzt werden würde, gehen die ausgelegten Sprengsätze hoch. Bei der dadurch ausgelösten Gerölllawine wird Gabe tödlich getroffen und stürzt anschließend über einen Abgrund in die Tiefe. Bereits einen Tag nach ihrer Ankunft in Haven Springs steht Alex einmal mehr vor den Trümmern ihres Daseins. Die Minengesellschaft legt die Sache schnell als Unfall zu den Akten, zumal sich der in jener Nacht diensthabende Sicherheitsoffizier Mac, welcher kurz zuvor noch einen handfesten Streit mit Gabe ausgetragen hat, partout an keinen eingegangen Anruf erinnern will. Für Alex und ihre Freunde steht allerdings fest, dass die Verantwortlichen irgendetwas zu verbergen haben und alles auf Mord hindeutet. Bei ihren Nachforschungen kommt das Trio einem brisanten Geheimnis auf die Spur, für dessen Bewahrung selbst einige der Einwohner notfalls über Leichen gehen…

Gedankenspiele

Bisher wurde jeder Ableger der Reihe ausschließlich im Episodenformat veröffentlicht. Nicht gerade zur Begeisterung der Fans, die dadurch gezwungen waren, vom Anfang bis zum Finale oftmals Monate warten zu müssen. Mit Life is Strange: True Colors hat Publisher Square Enix dieser Praxis zum Glück abgeschworen, alle fünf Episoden des Spiels sind von Anfang an komplett unter einem Dach vereint und dementsprechend auch direkt abrufbar. Mit durchschnittlich zwei Stunden Spielzeit pro Episode ist der Abspann schnell erreicht. Weil das Spiel aber wie immer basierend auf den getroffenen Entscheidungen mehrere, teils stark voneinander abweichende Enden bietet, lohnt sich mindestens ein weiterer Durchgang allemal – besonders, weil sich die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten wirklich spürbar darauf auswirken, wie sich Geschichte und Charaktere entwickeln. Und beides zählt zu den großen Stärken des Spiels. Lasst euch diesbezüglich nicht von den Unkenrufen irritieren, die den Machern vorwerfen, den Spielern mit ihrem Werk forcierte Diversität und übertriebenen Woke-Kulturismus aufzuzwingen. Nichts davon ist auch nur ansatzweise wahr. 

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Ein scheinbares Verbrechen inmitten einer auf den ersten Blick harmlos wirkenden Kleinstadt ist zwar bei weitem nichts Neues, so atmosphärisch und inhaltlich stimmig wie hier wurde es als Setting allerdings bisher noch nicht umgesetzt. Angefangen bei der sympathischen Protagonistin bis in die kleinsten Nebenrollen hinein erzählt jede Figur eine eigene, glaubwürdige Geschichte auf Basis einer sich einzigartig anfühlenden Persönlichkeit. Das Spektrum umfasst dabei ganz normale Alltagssorgen, setzt sich aber auch mit schwierigen Themen wie Alzheimer oder eben dem Verlust geliebter Menschen auseinander. Und das geschieht grundsätzlich auf so eine feinfühlige und ergreifende Weise, dass es einem extrem schwerfällt, zum Ende der Geschichte Abschied von Alex, Haven Springs und all seinen Bewohnern zu nehmen. Life is Strange: True Colors gelingt es auf meisterhafte Weise, eine nahezu perfekte Balance zu erschaffen, wenn es darum geht, die Emotionen der Figuren mit unserer eigenen Wahrnehmung des Geschehens und schlussendlich natürlich auch der damit verbundenen Interaktion durch Alex´ besondere Gabe zu verbinden. Das System, Emotionen durch verschiedene Farben auszudrücken, ebenso aber auch die damit verbundenen Gefahren, fügen sich mechanisch wunderbar ins Gameplay ein. Und falls ihr immer schon an einem virtuellen LARP teilnehmen wolltet, erfüllt euch das Spiel auch diesen Wunsch auf gelungene Weise. 

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Was grundsätzlich nach einem heißen Anwärter für eine Wertung von 9.0 und aufwärts klingt, muss sich aber hier und da auch Kritik gefallen lassen. Unter anderem die, dass man eine spielerische Herausforderung hier grundsätzlich vergebens sucht, um Rätsel oder Herausforderungen abseits gut überlegter Antworten innerhalb der Dialoge macht das Spiel konsequent einen großen Bogen. Wer also mehr erwartet als eine (toll geschriebene) interaktive Geschichte aus dem Slice-of-Life-/Mysterygenre oder mehr Interaktionsmöglichkeiten als jene der Vorgänger zu bieten wussten, wird auch mit dem aktuellen Serienableger nicht glücklich werden. Berücksichtigt man diesem Umstand, ist Life is Strange: True Colors nach dem allerersten Teil aber der bisher Beste der ganzen Reihe. Wo Before the Storm sich mechanisch zu sehr auf Glatteis wagte und Life is Strange 2 durch den häufigen Ortswechsel sowie das nervige jüngere Geschwisterchen allgemein wenig begeistern konnte, kehrt True Colors zurück zu den Anfängen. So haben wir Zeit, die Haupt- und Nebencharaktere in Ruhe kennenzulernen und auch das liebevoll detailliert gestaltete Haven Springs zwischen unseren Aufgaben frei bis an den Rand seiner uns auferzwungenen Grenzen frei erkunden zu können. 

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Zwar dürfen wir der Hauptstraße nie bis zu ihrem Ende folgen und auch abseits der drei handlungsrelevanten Hauptgebäude zumeist nur Außenfassaden bewundern, dazwischen finden sich aber zahllose Plakate, Plaketten und Co., die uns einen tieferen Blick in die Stadtgeschichte samt Bewohnern offerieren. Manche Gegenstände lösen sogar besondere emotionale Erinnerungen aus, von denen jede einzelne mit einem Achievement belohnt wird und die viel zum Grundverständnis der Geschichte beitragen. Es ist also definitiv ratsam, nicht nur nach Gesprächs- und Interaktionsmöglichkeiten Ausschau zu halten, sondern sogar gezielt danach zu suchen. Verpasste Gelegenheiten, mithilfe von Alex´ Fähigkeit anderen zu helfen, können sich ebenso negativ auf das Finale auswirken wie deren unüberlegter Einsatz. So habe ich die Gabe beispielsweise in einer Situation mit besten Absichten genutzt, dafür entzog mir der entsprechende Charakter aber in einem wichtigen Moment jedwede Unterstützung. Dass ich damit absolut nicht gerechnet habe, sehe ich als sehr positives Zeichen. Zum Glück ist dann trotzdem noch alles irgendwie gut ausgegangen…zumindest für mich. 

Zwischen Ärger und Augenöffnern

Bei der Technik setzt das Spiel auf die Unreal Engine 4 und bleibt damit seinen Wurzeln treu, was übrigens auch für den eher comicartigen, farbenfrohen Gesamtlook gilt. Die Stärken des Grafikmotors spielt der Titel primär bei Beleuchtung und Partikeleffekten aus, während ausgerechnet die agierenden Figuren trotz grundlegend solider Mimik leider doch arg hölzern animiert rüberkommen. Da wäre definitiv mehr möglich gewesen, zumal Elemente wie Bekleidung bis hin zu Innenräumen und Außenarealen mit viel Liebe zum Detail aufwarten. Davon wird man aber zumindest auf den Konsolen der letzten Generation nur wenig sehen. Besonders auf der betagten XBOX One S muss man alleine schon auflösungsbedingt eine Menge Kompromisse eingehen, um die angepeilte Bildrate von 30 Frames pro Sekunde überhaupt ansatzweise zu erreichen. Und selbst dann schwankt die Performance munter hin und her. Nicht viel anders verhält es sich auf der PlayStation 4, die lediglich etwas höher auflöst und damit nicht ganz so matschig ausschaut. Eine Optimierung für die erweiterten Modelle gibt es nicht, lediglich die Bildrate präsentiert sich dort etwas stabiler, erreicht aber ebenso nie durchgehend saubere Werte.  

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Besser, aber längst nicht perfekt verhält es sich überraschenderweise auch bei PlayStation 5 und XBOX Series X|S, welche mit Ausnahme der Series S ebenso wie der PC (hier nur unter DirectX 12 und mit kompatibler Grafikkarte) optionales Raytracing bei der Schattendarstellung anbieten. Davon profitieren vor allem die Gesichter, die dadurch nicht mehr ganz so steril wirken. Allerdings: Egal ob aktiviert oder nicht, die Bildrate bleibt auch bei sämtlichen neuen Konsolen auf maximal 30 Frames pro Sekunde beschränkt, ein Performancemodus existiert nicht. Und selbst hier haben die Plattformen Mühen, konstante Performances abzuliefern. Die Drops sind bei weitem nicht so schlimm wie bei der Last Generation, aber definitiv spürbar. Was die Auflösung angeht, lässt sich leider nur mutmaßen. 4K wird zwar bei PlayStation 5 und XBOX Series X angegeben, ich glaube jedoch nicht, dass es sich dabei um eine native Werte handelt. Immerhin sieht das Bild hier schon ziemlich knackig aus, aber mir fehlt einfach das gewisse Etwas, um von echtem 4K ausgehen zu können. Hier herrscht absoluter Optimierungsbedarf! In seinem gegenwärtigen Zustand (Stand 10. September ist Patch 1.02) leidet das Spiel sehr unter der schlechten Optimierung und wirkt abseits von Raytracing inklusive höherer Auflösung wie ein gleichermaßen halbherziges wie lustloses Upgrade der noch schlechter abschneidenden Versionen für die Last Generation.  

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Für den Test der PC-Version haben wir unseren brandneuen Testrechner angefeuert. Bei echtem 4K, aktiviertem Raytracing und maximalen Details zeigte sich dann zunächst ein sehr differenziertes Bild. Saubere 60 Frames pro Sekunde, ein (wenn man den massiven Einsatz von Chromatischer Abberation einmal außer Acht lässt) durchgehend knackscharfes Bild und angenehm schnelle Ladezeiten erweckten zunächst den Eindruck einer Referenzversion. Bis sich dann im Laufe der Zeit leider auch hier starke Bildratenprobleme bemerkbar machten. Seltsamerweise aber nicht in den nachvollziehbar leistungshungrigen Außenbereichen, sondern immer dann, wenn Alex in das emotionale Bewusstsein anderer Menschen eintaucht. Dabei ändert sich meistens nur die Farbgebung. Was aber zuvor in nahezu identischer Situation noch pfeilschnell rannte, brach dann in komplett unspielbare Bereiche ein – daran änderte übrigens auch die Verringerung von Auflösung und Details oder das Abschalten der Echtzeitschattierungen nichts. Daher vermute ich das Problem auch hier bei einer mittelmäßigen Optimierung. Davon abgesehen ist der PC aber angesichts der noch schwerwiegenderen Probleme aller anderen Versionen zumindest momentan immer noch die bestmögliche Wahl. Dringend nachbessern müssen die Entwickler hier aber natürlich ebenfalls. 

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Ein uneingeschränktes Lob muss man dagegen dem Audiodepartment aussprechen. Musik hat wie schon in den Vorgängern einen immens hohen Stellenwert im Spiel. Der Soundtrack setzt sich neben Interpreten wie Dido und Kings of Leon hauptsächlich aus Indiekünstlern zusammen, passt aber einfach nur perfekt zu jeder gewählten Situation. Gleichzeitig ist Life is Strange: True Colors der erste Teil der Reihe, der mit vollständiger deutscher Synchronfassung aufwartet. Auch hier kann man nur mit Komplimenten um sich werfen: Sämtliche Sprecher leisten hervorragende Arbeit und passen perfekt zu ihren jeweiligen Rollen (mit Ausnahme von YouTuber Gronkh, der leider aus Popularitätsgründen immer wieder von Square Enix in die Sprecherkabine gelockt wird, zum Glück aber nur eine kleine Rolle hat). Bei der Bedienung empfiehlt sich grundlegend ein Gamepad, aber auch mit Maus und Tastatur lässt sich Alex einigermaßen brauchbar durch Haven Springs manövrieren. Besitzer einer PlayStation 5 müssen aber damit leben, dass die Möglichkeiten des DualSense hier mangels Gelegenheiten so gut wie ungenutzt bleiben. Dem Komfort tut das aber keinerlei Abbruch. 

Fazit und Wertung

profilbildapril„Die Befürchtung, dass sich Life is Strange: True Colors wie seine Vorgänger als ebenfalls nur mittelmäßige Fortsetzung entpuppen würde, war im Vorfeld groß – schließlich zählt der Erstling von 2015 bis heute zu den von uns am höchsten bewerteten Titeln aller Zeiten. Zumindest inhaltlich kann Entwarnung gegeben werden. Die fantastisch geschriebene Story mitsamt ihren Charakteren ist denen des Originals ebenbürtig, das Spiel mit den Emotionen funktioniert sowohl mechanisch als auch erzählerisch ausgezeichnet. Fünf mögliche Enden liefern zusätzlich hohen Wiederspielwert, Soundtrack und erstmals deutsche Sprecher liefern auf Spitzenniveau ab. Leider leidet das Spiel momentan auf allen Plattformen unter seinen wankelmütigen, willkürlichen und stellenweise wirklich brutalen Performanceproblemen. Wenn diesbezüglich nachgebessert wird, tun wir das gerne auch in Hinsicht auf unsere Wertung.“ 

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PRO:

+ Wunderbar geschriebene, unaufdringliche Charaktere
+ Spannende und wendungsreiche Geschichte
+ Idyllisches Kleinstadtsetting, mit viel Liebe zum Detail gestaltet
+ Stimmige Atmosphäre, auch dank gelungener Beleuchtungs- und Partikeleffekte
+ Toll ins Spielgeschehen implementierte Emotionsmechanik
+ Entscheidungen wirken sich spürbar auf das Spielgeschehen aus
+ Fünf mögliche Enden sorgen für hohen Wiederspielwert
+ Sammel- und Informationsobjekte vertiefen die Geschichte von Haven Springs sinnvoll
+ Sehr gute Textbegleitung in Form von SMS, Social Media und Alex´ Tagebuch
+ Virtueller LARP wird genial umgesetzt
+ Bis auf eine Ausnahme exzellente deutsche Sprecher
+ Perfekt gewählter Soundtrack 
+ Eingängige, intuitive Bedienung

CONTRA:

– Spielerisch nie fordernd
– Nicht mehr zeitgemäß animierte Charaktergesichter
– Schwankungsanfällige Bildraten (alle Konsolen)
– Willkürliche, massive Performanceeinbrüche (PC)

                                           GESAMTWERTUNG:     8.5/10

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